Eine biographische Skizze, zusammengestellt von Wilhelm Matzat
Zur Biographie von Carl und Elise Juchheim erschien 1964 auf japanisch die „Geschichte der Juchheim’s Konditorei“, verfasst von Ichijiro Etajima. Hauptquelle waren die Erzählungen von Frau Elise Juchheim gewesen, viele Interviews mit ihr waren auf Tonband festgehalten worden. Offensichtlich wurde japanischerseits auch eine deutsche Übersetzung angefertigt. Da sie wohl Schwächen aufwies, wurde Frau Dorothea Heinze von der Firma beauftragt, eine Neufassung in korrekterem Deutsch zu erstellen. 1976 erschien sie in Japan als Privatdruck in maschinen-schriftlicher Fassung mit dem Titel: „Dennoch bleibe ich standhaft. Geschichte der Konditorei Juchheim’s“. 51 Seiten, mit einem Foto von Elise Juchheim auf dem Titelblatt. In demselben Jahr 1976, anlässlichder Eröffnung eines Café Juchheim in Frankfurt/Main, wurde dort eine zweite deutsche Übersetzung des Etajima Textes herausgebracht, diesmal übertragen von Prof. Nakaba Terakawa. Der Titel: „Juchheim’s Konditorei zwischen zwei Kontinenten“. 36 Seiten. Beide Texte bringen auch die Weiterentwicklung der Firma Juch-heim von 1964 bis 1976.
Die Firma feierte in 2009 ihr 100jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass soll die Biographie von Carl und Elise Juchheim kurz vorgestellt werden, zumal der Etajima Text bezüglich der Tsingtauer Zeit der Juchheims eine Reihe von Fehlern enthält, wie ich durch meine Recherchen in den Tsingtauer Quellen feststellen konnte. Der Leser findet unten-stehend zum ersten Mal die richtigen Daten für die Tsingtauer Periode (1909 – 1920).
Laut der älteren Literatur ist Carl Juchheim am 25.12.1886 in Kaub am Rhein geboren, als Sohn des Franz Juchheim. De facto wurd Carl aber als Karl Josef Wilhelm Juchheim in dem Hof Sauerberg in der Gemeinde Sauerthal geboren, als Sohn des Landmanns Franz Josef Juchheim und der Emma geb. Beerbaum. Das Dorf liegt rund 4 km östlich von Kaub im Hintertaunus. Aufgewachsen ist Carl Juchheim allerdings in Garz auf Rügen. Er erhielt eine Ausbildung zum Bäcker und Konditor. In Tsingtau hatte 1909 der Konditor des Kaufhauses Sietas, Plambeck & Co., Günther Otho, gekündigt und seine eigene Backfabrik und Konditorei unter dem Namen „Café Kronprinz“ in der Friedrichstraße eröffnet. Dieses existierte bis ca. 1949, später unter dem Namen Café Floessel. Wahrscheinlich las Juchheim eines Tages in einer Zeitung eine entsprechende Annonce des Tsingtauer Kaufhauses, bewarb sich und wurde angenommen. 1909, inzwischen 22 Jahre alt, fuhr er nach Tsingtau, wo er bis Ende 1913 in der Backstube des Kaufhauses Sietas, Plambeck & Co. als Bäcker und Konditor tätig war. Es befand sich auf der Nordseite der Hohenzollern Straße (Lanshan Road) an der Ecke zur Hamburger Straße (Henan Road). Als Privatadresse von Juchheim wird bis 1912 die Tschili Straße (Hebei Road) angegeben, die im sog. Industrieviertel von Dabaodao lag, eigentlich keine besonders gute Wohngegend. Sehr wahrscheinlich waren die Mieten dort niedriger. Gegen Ende 1913 kündigte Juchheim seine Anstellung im Kaufhaus, er war nun 27 Jahre alt. Offensichtlich plante er, wie es sein Vorgänger Otho getan hatte, in Tsingtau ein eigenes Café mit Konditorei zu gründen. Vorher wollte er aber erst einmal heiraten. Zwecks Brautsuche fuhr er Anfang 1914 mit der Bahn über Sibirien nach Deutschland. Von den vielen Leuten, die er traf, war einer der Konditormeister Hermann Bergmann in Moers. Dieser stellte ihm seine Nichte, Frl. Elise Ahrendorf vor. Sie war am 7.3.1892 als Tochter von Max und Anna Ahrendorf in St. Andreasberg im Harz geboren worden. Ihre Mutter verstarb, als sie 13 Jahre alt war. Ihr Vater hatte keine Zeit, sich ihr zu widmen, und so wurde Elise nach Berlin zu einer Tante geschickt. Nach der Schulzeit dort besuchte sie eine Handelsschule in Dresden. Als sie ihre berufliche Ausbildung beendet hatte, kam sie zu ihrem Onkel Hermann in Moers und lernte als Anfängerin in einer Konditorei.
Carl und Elise fanden offensichtlich Wohlgefallen an einander und die beiden verlobten sich. Er fuhr nach nur kurzem Aufenthalt in Deutschland wieder mit dem Zug nach Tsingtau zurück und mietete in der Prinz Heinrich Straße 14 einen Laden, der unter dem Namen „Kon-ditorei und Bäckerei C. Juchheim“ firmierte. In demselben Gebäude war auch das „Atelier feiner Herrengarderoben nach Maß“ von Gottlieb Peterhänsel. Elise kam einige Monate später, ebenfalls per Zug über Sibirien, nach Tsingtau, wo sie im Juli 1914 eintraf. Die Hoch-zeit fand am 28.7.1914 statt. Erst war die standesamtliche Trauung im Gouvernements-gebäude durch Zivilkommissar Günther, dann die kirchliche in der evangel. Christuskirche durch Missionssuperintendent Voskamp. (Foto vorhanden.) Vier Tage später begann in Europa der Weltkrieg. Auch Japan beschloss, sich daran zu beteiligen. Nachdem die Deutschen ein entsprechendes japanisches Ultimatum nicht beantwortet hatten, erklärte es am 23.8.1914 dem Deutschen Reich den Krieg und begann die Belagerung Tsingtaus. Die meisten deutschen Frauen und Kinder verließen daraufhin die Stadt, Elise Juchheim aber blieb. Alle irgendwie wehrfähigen deutschen Männer in Tsingtau mussten bei der Verteidi-gung mitwirken. Juchheim hatte offenbar zuhause keinen Wehrdienst absolviert und wurde deswegen nur als Gemeiner im Landsturm eingesetzt. Die Leute des Landsturms waren nicht bewaffnet sondern leisteten in der Etappe Dienste verschiedener Art, vor allem Transport-dienste. Als dann am 7. Nov. 1914 die deutschen Verteidiger kapitulieren mussten, wurden über 4000 von ihnen nach Japan in die Kriegsgefangenschaft abgeführt, die ca. 34 Landsturm-leute aber nicht. Juchheim konnte also weiterhin in Tsingtau mit seiner Frau zusammen leben, das Café musste allerdings geschlossen werden. Die beiden residierten wohl weiterhin in der Wohnung in der Prinz Heinrich Str. 14, denn das Haus hatte einen chinesischen Eigentümer.
Die japanische Besatzungsmacht hatte natürlich das Ziel, so viele Deutsche wie möglich aus Tsingtau zu entfernen. Es kam deswegen in den nächsten 10 Monaten mehrmals zu über-raschenden Verhaftungen deutscher Männer, die nach dem 7.11.1914 in Tsingtau geblieben waren. Die letzte Aktion dieser Art fand am 7.9.1915 statt: Die 34 ehemaligen Landsturm-leute wurden nun doch verhaftet und in die Moltke-Baracken eingeliefert, darunter auch Carl Juchheim. Am 16.9. wurde ein Teil von ihnen nach Japan abtransportiert und in diversen Gefangenenlagern untergebracht, Juchheim zunächst im Lager Osaka, dann ab 19.02.1917 in Ninoshima.
Elise Juchheim war inzwischen schwanger und brachte am 4.11.1915 einen Sohn zur Welt. Die Taufe fand am Ostersonntag, den 23.4.1916, zusammen mit 5 anderen Täuflingen in der Christuskirche durch Pfarrer Richard Wilhelm statt. Der Sohn erhielt die Namen Karl-Franz Hermann. Karl nach dem Vater, Franz nach dem väterlichen Großvater, Hermann nach dem Onkel von Elise in Moers. (Foto vom 23.4.1916 mit Mutter und Täufling ist vorhanden.) Von Ende Januar 1916 bis Frühjahr 1920 lebten in Tsingtau nur noch ca. 350 Deutsche: 180 Kinder, 135 Frauen und 26 Männer. Zu ihnen gehörte auch Elise Juchheim und ihr Sohn.
Café Europe in Tokyo
Als Carl im Dezember 1919 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, hatte er sich entschieden, in Japan zu bleiben. Er holte also im Frühjahr 1920 seine Frau und den Sohn dorthin. Mit Hilfe der Lebensmittelgroßhandlung Meijiya, die Juchheim einen 2-jährigen Kontrakt anbot, fanden sich die Mittel zum Neubeginn. Die erste ausländische Konditorei in Tokyo wurde in der Ginza eröffnet und hieß Café Europe. Wie neuartig waren für die dama-lige Zeit in Japan die verschiedenen Kuchen wie Sandtorte, Frankfurter Kranz, Windbeutel, 10 cm im Durchmesser, mit Sahne gefüllt! Eine beliebte Spezialität wurde der Baumkuchen, beim Backen handgedreht, den man gern zu Hochzeiten schenkte.
Café E. Juchheim in Yokohama
Im Jahr 1921 beschlossen die Juchheims, sich selbständig zu machen. Von einem Russen kauften sie im 30 km entfernten Yokohama in der Hauptgeschäftsstraße Motomachi ein zweigeschossiges Haus mit Keller. Das Untergeschoss wurde zur Backstube ausgebaut, das Café lag zu ebener Erde, ein Teil des oberen Stockwerks wurde an ausländische Logiergäste vermietet. Carl nannte sein Geschäft nach dem Namen seiner Frau „E. Juchheim“, es wurde im Oktober 1921 eröffnet. Das Geschäft entwickelte sich günstig, und im Februar 1923 wurde die Tochter Hildegard geboren. Da ereignete sich am 1.9.1923 zur Mittagszeit das große Kanto-Erdbeben, das in Tokyo und Yokohama riesige Zerstörungen verursachte. Auch bei Juchheims stürzten Teile des Gebäudes ein. Elise, die gerade im 1. Stock ihr Baby baden wollte und mit dem gesamten Fußboden in das Erdgeschoss absackte, konnte sich und das Kind durch eine Spalte ins Freie retten. Carl rannte aus der Backstube im Keller nach oben zum Ausgang, wurde aber noch durch herabstürzende Mauerteile am Bein verletzt. Der 8-jährige Karl-Franz hatte wohl im Garten gespielt und war weggelaufen und nicht aufzufinden. Weil es überall brannte, flüchteten die Überlebenden zur Küste und zum Hafen. Da es in Yokohama keine Quartiere mehr gab, organisierten die Behörden Schiffe, welche die Obdachlosen in andere Städte Japans brachten. So landeten Carl und Elise Juchheim mit Tochter am 6.9. in Kobe, wo sie bei Bekannten eine vorläufige Unterkunft fanden. Elise ging jeden Tag zum Oriental Hotel, wo neue Obdachlose eintrafen und fragte, ob ein kleiner Junge mit an Bord gewesen sei. Am 10.9. kam das letzte Schiff aus Yokohama. Als sie das Foyer des Hotels betrat, kam ihr Karl-Franz entgegengelaufen! Eine Französin, Madame Peak, hatte am Hafen in Yokohama den weinenden und elternlosen Jungen aufgelesen. Um ihn mit-nehmen zu können, hatte sie ihn als ihren Sohn ausgegeben. Bei den Meldebehörden war er deshalb unter dem Namen Peak registriert worden.
Juchheim’s Confectionery & Bakery in Kobe.
Die Juchheims hatten zum zweiten Mal ihr Vermögen verloren, das zerstörte Haus nebst Betriebsgeräten war ihr Eigentum gewesen. Von Bekannten wurden sie trotzdem ermuntert, wieder eine Konditorei zu eröffnen, diesmal im Zentrum von Kobe. Dort stand in einem zweistöckigen Haus das Erdgeschoss gerade leer, das sie mieteten. Drei Angestellte und 3 Serviermädel aus dem Geschäft in Yokohama konnten sie für den mühseligen Wiederaufbau gewinnen. Tatsächlich ist es dann gelungen, von 1923 bis 1944 Café und Konditorei Juch-heim’s (so der neue Name) zu etablieren und durch die Qualität der Produkte, vor allem des Baumkuchens, in ganz Japan bekannt zu werden. Auf die Geschäftsentwicklung mit ihren Höhen und Tiefen kann hier nicht eingegangen werden. Privat wurde die Familie von Schick-salsschlägen heimgesucht. Die Tochter Hildegard starb bereits im Alter von 1 Jahr und 9 Monaten an Hirnhautentzündung. Karl-Franz wurde 1925 nach Deutschland in ein Internat gegeben, wo er nach dem Abitur die Meisterschule des Konditorhandwerks in Wolfenbüttel besuchte. Carl erlitt 1937 aufgrund totaler Überarbeitung einen Nervenzusammenbruch. 1938 schickte man ihn zu einem Kuraufenthalt in Deutschland. Sein Sohn hatte gerade die Meisterprüfung bestanden, heiratete Margarete von Ninroden, und das Paar fuhr noch 1938 nach Japan, um der Mutter bei der Leitung des Betriebes zu helfen. Carl fühlte sich, je länger es dauerte, einsam und verlassen, deshalb reiste Elise im Juni 1940 zu ihm und brachte ihn im November 1940 nach Kobe zurück. 1942, das junge Paar Juchheim hatte inzwischen vier Kinder, erhielt Karl-Franz einen Gestellungsbefehl. Zusammen mit anderen Wehrpflichtigen wurde er in einem U-Boot in die Heimat gebracht, wo er am 6.5.1945 bei Wien gefallen ist.
Die Stadt Kobe wurde schließlich auch von den amerikanischen Bombenangriffen heim-gesucht und zum dritten Mal in ihrem Leben wurde den Juchheims ihr Geschäft zerstört. Fast alle Deutschen Kobes waren inzwischen auf den Berg Rokko geflüchtet, dort ist Carl Juchheim am 15.8.1945, am Tag des Kriegsendes, an einem Herzinfarkt gestorben. 1947 wurden die Japandeutschen von den Amerikanern nach Deutschland repatriiert, unter ihnen befanden sich Elise Juchheim mit Schwiegertochter und den 4 Kindern: Karl Heinz (* 1938), Dieter, Gisela und Horst.
In Japan beschlossen 1947 zwei ehemalige Mitarbeiter, Kawamura und Yamaguchi, selbst eine Konditorei zu eröffnen, unter dem bewährten Namen Juchheim. Sie nahmen brieflichen Kontakt mit Frau Elise auf, die ihnen gestattete, den traditionsreichen Firmennamen zu übernehmen. Der erste größere Laden wurde in Kobe im Stadtteil Ikuta eingerichtet. Das Unternehmen war erfolgreich. So konnte man Elise Juchheim bitten, nach Japan zurück-zukehren. Diese traf am 21.3.1953 in Kobe ein und übernahm den Posten des General-direktors der Juchheim AG. Am 10.5.1966 erhielt sie vom japanischen Kaiser den Orden des Heiligen Schatzes verliehen. Im Laufe der Zeit stellte sich aber heraus, dass die finanzielle Seite des Betriebes zu schlecht organisiert worden war, und es kam zu einer bedrohlichen Finanzkrise. Es glückte aber Frau Elise, Herrn Haruo Kawamoto als stellvertretenden Generaldirektor zu gewinnen, da er von verschiedenen Geldgebern eine Summe von 10 Millionen Yen zur Erhöhung des Grundkapitals beibringen konnte. Elise Juchheim starb 1971 und wurde neben ihrem Mann in Ashiya begraben. Haruo Kawamoto übernahm nun die Leitung. Er und dann sein Sohn Takeshi Kawamoto, der in Deutschland das Konditorhand-werk erlernte, haben in den 40 Jahren von 1971 bis 2010 den Betrieb zur jetzigen Großfirma hochgebracht. Im Jahr 2009 feierte diese ihr 100jähriges Bestehen. Dieses Jubiläum wurde u.a. so begangen, dass die Firmenleitung mehreren hundert Angestellten der Firma eine Reise nach und Aufenthalt in Tsingtau spendete, so dass diese den Ort kennen lernen konnten, wo 1914 die Bäckerei und Konditorei Juchheim gegründet worden war. Das mehrstöckige Gebäude in der Guangxi Road, wo die Juchheims ihren Laden gemietet hatten, stand noch bis ca. 1990. Dann wurde die Bausubstanz im ganzen Straßenblock abgerissen und durch einen hässlichen Rundbau (!) ersetzt. Eine unwahrscheinliche Bausünde!
Die Firma verfügte 2009 über 328 Filialen und hatte im Jahr zuvor 31,2 Milliarden Yen erwirtschaftet, was ungefähr 240 Millionen EURO entspricht. Neben einer breiten Palette von Feingebäck ist nach wie vor der Baumkuchen das Hauptprodukt. Takeshi Kawamoto, der Präsident von Juchheim Co., Ltd., feierte im Jahr 2010 seinen 70. Geburtstag.